„…fühlend…und kämpfend für eine bessere Zeit“
18. Juni 2012
„Sie kennt keine Flucht aus der Wirklichkeit, sie bleibt mit allen Fasern ihrer Persönlichkeit in der Zeit, fühlend, beobachtend, urteilend und kämpfend für eine bessere Zeit.“ Oskar Maria Graf formulierte diese Zeilen über Lina Haag 1963 zu ihrem bewegenden Buch „Eine Handvoll Staub“, das er „einen unendlichen Liebesbrief“ nannte.
Lina Haag beschrieb 1944 in Form eines Briefs an ihren Mann Alfred, von dem sie seit Monaten nichts mehr gehört hatte, ihren eigenen Lebensweg und den ihres Mannes:
Lina Haag, geboren am 18.1.1907, entstammt einer Arbeiterfamilie aus Schwäbisch Gmünd. Bereits als Jugendliche lernt sie den Tischler Alfred kennen, mit dem sie sich gegen das wachsende soziale Elend engagiert, zunächst im Kommunistischen Jugendverband, dann in der KPD. Lina und Alfred heiraten und bald wird die Tochter Käte geboren. Aber Lina hat wenig Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben und will stattdessen in Argentinien, wo ein Onkel lebt, eine neue Zukunft für die Familie aufbauen. Weil das Geld für eine zweite Fahrkarte fehlt, fährt Lina 1929 zunächst allein, um etwas zu verdienen, damit Alfred mit der Tochter später nachkommen kann.
Aber aus diesem Traum wird nichts, weil sich Alfred inzwischen voll in die politische Arbeit gestürzt hatte – als Journalist, dann als Gemeinderat und schließlich als Landtagsabgeordneter der KPD; er will nicht weg. So kehrt Lina 1931 nach Deutschland zurück.
Gleich nach der Machtübernahme durch die Nazis wird Alfred verhaftet, drei Wochen später auch Lina. Ihr Leidensweg führt sie – nur einmal für wenige Monate unterbrochen – insgesamt über viereinhalb Jahre durch Gefängnisse und das Konzentrationslager Lichtenburg. Ihre Entlassung 1939 bringt zwar das Wiedersehen mit ihrer Tochter, aber sie weiß vom Leiden ihres Mannes in den Lagern Dachau und Mauthausen. Wieder setzt sie all ihre Kraft ein, ihn freizubekommen, erreicht sogar eine Unterredung bei Heinrich Himmler und schließlich die Freilassung von Alfred. Aber das Wiedersehen ist kurz, weil er bald darauf – trotz „Wehrunwürdigkeit“ – als Soldat an der Ostfront eingesetzt wird.
Erneut ist Lina mit ihrer Tochter allein; in Berlin macht sie eine Ausbildung als Krankengymnastin, arbeitet dann als Krankenschwester und lässt sich 1944 nach Garmisch versetzen, wo sie – in Ungewissheit über das Schicksal Alfreds – ihr Buch heimlich schreibt, immer in Angst vor erneuter Verhaftung.
Nach Kriegsende zieht Lina zusammen mit ihrer Tochter nach München, arbeitet in ihrem Beruf und erlebt das große Echo auf ihr Buch „Eine Handvoll Staub“, das 1947 im Nest-Verlag erstmals erscheint, im gleichen Jahr in London und in Halle. Aber von ihrem Mann fehlt noch immer jede Spur. Erst 1948 kehrt er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück.
Alfred widmet sich bald ganz der Arbeit für die Interessen der ehemaligen KZ-Häftlinge, als Fachmann für Entschädigungsfragen, als Landesvorsitzender der VVN Bayern, als Vertreter des Internationalen Dachau-Komitees und Mitinitiator der KZ-Gedenkstätte Dachau. Lina verdient Geld, kann sich endlich der Familie widmen, diskutiert mit Alfred, besänftigt ihn oder gibt ihm neuen Mut in jenen schwierigen Zeiten, kümmert sich um die ausländischen Kameradinnen und Kameraden – und schafft damit auch die Grundlagen für Alfreds Arbeit.
Lina Haags Buch wurde auch in Ungarn und der Sowjetunion in 100000facher Auflage herausgegeben, und 1977 erstmals auch wieder in der BRD, im Röderberg-Verlag; für Lina ist es Ehrensache, Erlöse daraus zu spenden.
Das wachsende Interesse gerade Jüngerer an der Geschichte von Verfolgung und Widerstand berührt Lina sehr und führt in den nächsten Jahren – auch nach Alfreds Tod 1982 – zu neuem Engagement bei Lesungen, bei Gesprächen mit Jugendlichen und vor allem auch bei der Korrespondenz mit Leserinnen und Lesern ihres Buchs.
In den letzten zwanzig Jahren trat sie nur noch selten bei Veranstaltungen auf, beantwortete aber gewissenhaft Fragen von LeserInnen und freute sich über deren Rückmeldungen. Dieses Echo zeigte sich insbesondere, seit neue Auflagen ihres Buches bei Fischer, im Silberburg-Verlag und dann nochmals bei dtv erschienen sind. Interessiert am Weltgeschehen und Anteil nehmend blieb sie bis zuletzt.
Vor einem halben Jahr musste sie noch den Tod ihrer Tochter verschmerzen. Nun ist Lina Haag am 19. Juni 2012 in ihrem Haus im Münchner Westen, das sie sich mit ihrem Mann Alfred Anfang der 1950er Jahre gebaut hatte, verstorben.
Der Landesverband Bayern der VVN-BdA – zusammen mit ihren vielen Freunden – trauert um ihre Kameradin Lina, die in ganz besonderer Weise für den oft vergessenen Mut, für Widerstand und Mitmenschlichkeit gerade auch von Frauen in der Zeit des Naziregimes und im Nachkriegsdeutschland steht.
Friedbert Mühldorfer, Landessprecher der VVN-BdA Bayern