Vier Bischofssitze und ein Grenzübergang – Tagebuch einer Lesereise durch Bayern
31. Oktober 2011
Ein Buch stand im Mittelpunkt einer Rundreise durch Bayern. Wir, Silvia Gingold und Ulrich Schneider, machten uns in der dritten Oktober-Woche auf Lesereise, um in fünf Städten die autobiographischen Aufzeichnungen von Peter Gingold „Paris – Boulevard St. Martin No. 11“ vorzustellen. Eingeladen durch Kreisorganisationen der VVN-BdA führte uns die Rundreise von Bamberg, über Hof, Regensburg und Freising nach Würzburg.
Die Anreise begann stilvoll per ICE und Regionalexpress. Wie üblich machte es die Deutsche Bahn wieder etwas spannend, als der Zug von Kassel in Würzburg mit 8 Minuten Verspätung eintraf – der Anschlusszug jedoch eigentlich nur 10 Minuten Übergang hatte. Mit einem kurzen Spurt gelang es, den Regionalexpress zu erreichen, der dann jedoch noch 10 Minuten wartete, was uns nicht wirklich störte.
Während der Zugfahrt besprachen Silvia und ich noch einmal die zu lesenden Texte. Dabei stehen wir immer vor der Unwägbarkeit, wie denn unser Publikum sein wird. Sind es eher jüngere Menschen oder Ältere? Welchen Bezug hatten sie zu Peter Gingold? Was erwarten die Zuschauer? Leider konnten uns auch die jeweiligen Veranstalter im Vorfeld dazu wenig konkrete Aussagen machen.
Also entscheiden wir uns dafür, ein Konzept zu wählen, das wir bereits erfolgreich in früheren Lesungen erprobt hatten. Wir lesen in der Regel eine knappe Stunde und geben anschließend die Gelegenheit zum Gespräch, wobei die Rückmeldungen zum zweiten Teil recht unterschiedlich sind. Mal schließt sich ein intensives Gespräch an, das aber nicht beim Thema Peter Gingold stehen bleibt, sondern oftmals auf verschiedene Bereiche des antifaschistischen Handelns Bezug nimmt, oder es stehen Erinnerungen an Veranstaltungen mit Peter in den jeweiligen Städten im Mittelpunkt, mal gibt es ein oder zwei kurze Rückfragen im Plenum und damit ist der öffentliche Teil der Veranstaltung beendet. Dann erst kommen Teilnehmer auf uns zu und berichten von persönlichen Begegnungen mit Peter oder erfragen Details zum Buch, so dass wir auch dort meist nicht unter zwei Stunden fertig sind.
Die Lesung in Bamberg
Als wir in Bamberg eintrafen wurden, wir mit der Realität des Neofaschismus konfrontiert. Zwei junge Männer in Outfit und Auftreten als Neonazis erkennbar, fuhren ebenfalls mit dem Zug bis Bamberg. Jedoch wechselten sie beim Ausstieg in die gegenüberstehende Regionalbahn nach Sonneberg (Thüringen). Wir wurden dagegen von Stefan empfangen, ein ehemaliger Gärtner, der aktiv in der VVN-BdA ist und sich sehr für Heimatgeschichte aus antifaschistischer Perspektive interessiert. Immer wieder gab er uns im Gespräch auf dem Weg zu unserem Hotel und durch die Straßen kleine Kostproben seines historischen Wissens. Mit ihm verabredeten wir am kommenden Vormittag einen ausführlichen Stadtrundgang.
Bamberg selber stellte sich als pulsierende Mittelpunktstadt dar. Bei unserer Ankunft war gerade die Schule aus, sodass die Busse in die Innenstadt völlig überfüllt waren. Im Stadtzentrum sah man ebenfalls zahllose junge Leute, die zum Semesterstart in Bamberg eingetroffen waren. Und wenn das nicht schon genug wäre, stolperte man in der gesamten Altstadt über Massen von Touristengruppen, die das „Weltkulturerbe“ unter angeleiteter Führung besichtigen wollten. So hörte man bei den Stadtführern englisch, russisch, französisch, manchmal deutsch, selten fränkisch – oder wie man es hier sagt „A weng“.
Zum Glück lag unser Quartier direkt in der Innenstadt und es war möglich, fußläufig alle interessanten Orte zu erreichen. Da wir abends schon wieder lange sitzen würden und die Zugfahrt einige Zeit gedauert hat, war ich froh, in eigener Regie durch die Stadt ziehen zu können. Silvia hatte sich mit ihrem Sohn verabredet, so dass wir kein „offizielles“ Programm hatten. Beim Rundgang bestätigte sich der Eindruck, dass Bamberg nicht nur ein Oberzentrum ist, sondern auch eine recht junge Stadt. Wahrscheinlich geht dies jedoch zu Lasten der Umlandgemeinden, wie in vielen Regionen.
Vereinzelt sah man in der Stadt auch Zeichen politischer Aktivität. So hatten offensichtlich einige Aktivisten das Symbol der „Occupy Wall Street“ – Bewegung aus dem Internet geholt und auf A4-Zettel kopiert, die an verschiedenen Stellen der Stadt, insbesondere in Universitätsnähe klebten. Ob es jedoch am Samstag in Bamberg selber Aktionen gegeben hat konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Um 18.00 Uhr verabredeten wir uns mit Günter, dem örtlichen Veranstalter, in der Lokalität, in der die Lesung stattfinden sollte. Es war der Nebenraum einer Kneipe direkt in der Innenstadt, also gut zu erreichen. Dennoch hatte Günter Sorgen, dass nur wenige Besucher kommen würden. Man debattiere in der VVN-BdA im Moment einige politische Fragen, die für manche viel „spannender“ seien, als ein solche Lesung. Schade eigentlich, denn das, was Peter Gingold in seinen autobiographischen Aufzeichnungen zu sagen hat, wäre sicherlich auch eine Hilfestellung für die Klärung offener Fragen innerhalb der Organisation.
So richteten wir uns auf eine kleine Veranstaltung ein und waren dann zufrieden, als sechzehn Zuhörer an diesem Abend kamen, wobei die Hälfte nicht Mitglieder der VVN-BdA waren. Wir lasen die vorbereiteten Texte und erlebten einmal mehr, wie es uns mit dem Programm gelang, die Zuhörenden von Anfang an in unseren Bann zu ziehen. Durch einige Überleitungen und zusätzliche Erläuterungen dauerte die Lesung selber gut eine Stunde, aber keiner der Gäste zeigte Anzeichen von Unruhe oder Ermüdung. Dies wurde auch nach der Lesung deutlich, als sich dann eine lebendige Debatte entwickelte, die nicht nur um das Buch, sondern insbesondere um die Fragen antifaschistischer Arbeit heute kreiste. Zum Abschluss wurde erkennbar, welch guten Eindruck der Abend bei den Teilnehmenden hinterlassen hatte, als wir trotz der geringen Teilnehmerzahl dennoch einige Bücher und Broschüren verkaufen konnten.
Obwohl wir noch eine „Nachbereitung“ der Lesung in einer Weinkneipe gemacht hatten, waren Stefan, Silvia und ich diszipliniert genug, um am nächsten Morgen gegen 9.00 Uhr zu einer antifaschistischen Stadtführung zu starten. Spannend war es zu erleben, wie die zahllosen prominenten Persönlichkeiten Bamberger Geschichte wie Friedrich Hegel, E.T.A. Hoffmann, Bodo Uhde, Wallenstein sich mit den gesellschaftlichen Kämpfen und der Auseinandersetzung mit der fürst-bischöflichen Macht verbinden lassen. Wir lernten die Gedenkstätte für die zerstörte jüdische Synagoge ebenso kennen, wie die bildlichen Darstellungen des kirchlichen Antisemitismus an dem Fürstenportal des Doms von Bamberg. Natürlich sahen wir auch die Gedenktafel für die Opfer des Faschismus und die Widerstandskämpfer, die nach massiven Auseinandersetzungen mit der Stadt doch an prominenter Stelle am „Alten Rathaus“ angebracht worden war. Genauso erzählte unser Stadtführer, mit welchen politischen Auseinandersetzungen es gelang, ein wunderschönes Fachwerkhaus einige Jahre zuvor vor einem Abriss zu retten. Den Abschluss bildete eine Brotzeit im „Schlenkerle“, einem Lokal in der Altstadt, das zwar durchaus touristisch ist, jedoch so urig war, dass auch Einheimische sich dort noch wohl fühlen konnten.
Die Lesung in Hof
Nun ging es durch die „oberfränkische“ Landschaft nach Hof. Mehrere Zeugnisse der Barock – Architektur waren auf dem Weg zu entdecken, ein Zeichen nicht nur für den ästhetischen Geschmack der Zeit, sondern auch für das massive Wirken der Gegenreformation, die mit der Barockästhetik die Schlichtheit des Protestantismus verdrängen wollte. Wir fuhren mit einem Regionalexpress, der durch „sehr viel Landschaft“ fuhr und an Haltepunkten zum Stehen kam, die uns – freundlich gesprochen – sehr fremd vorkamen. Mainleus, Marktschorgast oder Oberkotzau waren Stationen, bevor wir endlich den Bahnhof Hof errichten. Nun hat uns zum Glück die Zivilisation wieder, dachte ich spontan. Ich kannte Hof früher nur als Grenzübergangsstelle zur DDR.
Am Bahnhof wurden wir von der Kreisvorsitzenden der VVN-BdA in Empfang genommen. Sie brachte uns in einer kleinen Stadt etwa 12 Kilometer von Hof entfernt, in Schwarzenbach an der Saale, unter. Auf den ersten Blick hatte man den Eindruck einer beliebigen Kleinstadt, beim zweiten Hinsehen offenbarte dieser Ort aber interessante „Schätze“. Der erste Höhepunkt war die Mahn- und Gedenkstätte „Langer Gang“, eine Einrichtung, die man in einem solch kleinen Ort niemals erwartet hätte. In einem Garten hinter dem evangelischen Gemeindehaus bezogen im April 1945 Frauen des Arbeitslagers Helmbrechts auf ihrem Todesmarsch nach Volary ihr erstes Quartier, wobei die Bedingungen der Unterbringung eigentlich den Begriff verbieten. Zur Erinnerung an diesen Todesmarsch und an alle Verfolgte des faschistischen Regimes hat eine örtliche Geschichtsinitiative in einem kleinen Raum eine beeindruckende Gedenkstätte errichtet, in der Sachinformationen und künstlerische Installationen eine Auseinandersetzung mit der Geschichte ermöglichen.
Unsere Betreuerin berichtete, dass die Vereinsmitglieder seit mehreren Jahren eine regelmäßige Öffnung dieser Gedenkstätte realisieren und es sehr spannend sei, dass immer wieder Besucher aus der Umgebung kommen, die einen Besuch dieses Ortes damit verbinden, über ihre eigenen Erfahrungen und Kindheitserlebnisse zu berichten, was sie über die Todesmärsche oder den Einsatz von Zwangsarbeitern mitbekommen hätten.
Auch der weitere Rundgang durch den Ort war eindrucksvoll, erfuhren wir doch, dass in diesem Ort lange Jahre Frau Dr. Erika Fuchs gearbeitet hatte – die Übersetzerin der Donald Duck – Comics. Gegenwärtig richtet die Gemeinde ihr einen Museumsort ein. Der Weg zu unserem Quartier führte über den Jean-Paul-Weg zu der Stelle, an der er „seinen ersten Kuss“ bekommen hat, was er selber literarisch verarbeitet hatte. Zugleich sahen wir die Ergebnisse eines Kunstprojekts, bei dem überdimensionale Fische von verschiedenen Künstlern aus der Region und den europäischen Partnerregionen künstlerisch gestaltet waren. Man sah diese Werke an der Saale, auf öffentlichen Plätze und in einer kleinen Parkanlage in der Flussaue. Es war durchaus beeindruckend, welch kulturellen Impulse eine kleine Stadt mit weniger als 10.000 Einwohnern auf den Weg bringt, wenn das gesellschaftliche Netzwerk vorhanden ist.
Man nächsten Morgen erfuhren wir aber auch, dass dieser Ort recht große Probleme hat, da mehrere ehemals ansässige Industriebetriebe geschlossen oder deutlich Arbeitskräfte abgebaut hatten. Aber im Bewusstsein vieler Schwarzenbacher hat dieser Ort eine Arbeitertradition. Das sichtbarstes Zeichen ist die jährliche 1. Mai Demonstration und Kundgebung in dem Ort. Während selbst in Hof mittlerweile nur noch eine Kundgebung stattfindet, demonstrieren hier – je nach Wetter – 100 bis 150 Menschen beim jährlichen 1. Mai Aufmarsch mit.
Die abendliche Lesung in Hof fand im örtlichen freien Kulturzentrum statt, der Galerie Weinert. Hier hatte man schon hinreichend Erfahrungen mit solchen Veranstaltungen gesammelt und auch ein gewisses „Stammpublikum“, das sich für die Thematik und Literatur interessierte. Mitveranstalter war in Hof die GEW, was insofern besonders ist, als die VVN-BdA immer noch im bayerischen Verfassungsschutzbericht vermerkt wird und damit manche Beamte möglicherweise Probleme in einer Zusammenarbeit sehen könnten. Wir präsentierten vor drei Dutzend Besuchern das Buch und lasen wie geplant einige Kapitel aus der Frankfurter Zeit, dem Widerstand in Frankreich und der weiteren Entwicklung in der Bundesrepublik. Silvia endete mit dem Appell, alles zu tun zur Verhinderung eines neuen Faschismus, was das Publikum mit dankbaren Applaus quittierte.
Unter den Besuchern waren auch „Überraschungsgäste“. Silvia traf eine langjährige Bekannte aus Hessen, die nun im beruflichen Ruhestand nach Hof gezogen war und sich sehr freute, dass wir mit der Lesung in dieser Stadt Station machten. Eine kleine „Abordnung“ aus Sachsen war ebenfalls anwesend. Vier Mitglieder der VVN-BdA Plauen, aus dem sächsischen Nachbarkreis Hofs hatten sich eingefunden. Zum Abschluss bedankte sich eine Kameradin bei Silvia mit den Worten, nach den dauernden „Stasi“- Debatten in Sachsen sei es ihr sehr wichtig gewesen, von ihr direkt zu erfahren, dass es in der BRD solche Verfolgungen gegeben habe.
Einen besonderen Eindruck hinterließ die Veranstaltung bei einem Gast, der eher zufällig teilgenommen hatte. Unsere Betreuerin hatte aus beruflichen Zusammenhängen einen Zeitzeugen nach Hof eingeladen, der in einer pädagogischen Akademie über seine Erfahrungen als Heimkind in einer Einrichtung in der DDR berichten sollte. Dieser junge Mann war auch uns gegenüber mitteilungsbedürftig und wir unterhielten uns vor der Lesung angeregt über Themen und Fragen, die ihn in den 90er Jahren bewegten, insbesondere seine Erfahrungen mit der Durchsetzung von Interessen bundesdeutscher Energiekonzerne in seiner Lausitzer Heimat. Er verband diese Eindrücke mit Bewertungen der politischen Landschaft, die sehr stark aus einer Abgrenzung gegenüber der ehemaligen DDR geprägt war. So monierte er, dass 75 % der sächsischen Politik aus der ehemaligen politischen Klasse der DDR stammten, weshalb sie solch bürgerfeindliche Politik betreiben würden. Für ihn wurde der Abend ein grundlegend neue Erfahrung, als er am Ende der Lesung erfahren musst, dass die „freieste aller Republiken“, für die er selber eingetreten ist, verdiente Antifaschisten zu „Staatenlose“ machte, einer Lehrerin Berufsverbot erteilte und andere „bittere Erfahrungen“ machen ließ. Er verabschiedet sich mit den Worten: „Ich habe heute viel nachzudenken.“ Was kann man mit einer Lesung mehr erreichen?
Die Lesung in Regensburg
Die Abfahrt nach Regensburg machte unvermittelt deutlich, welch zentraler Ort Hof eigentlich ist. Fast zeitgleich fuhren Züge nach Würzburg, nach Nürnberg, nach Dresden, in die tschechische Republik und nach Regensburg, wo unsere nächste Station sein sollte. Die Zugfahrt führte uns an einigen Orten vorbei, bei denen ich durchaus an vergangene soziale Kämpfe erinnert wurde. Wir passierten Schwandorf, wo Anfang der 80er Jahre massive Auseinandersetzung um die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf stattfanden. Als nächster Halt errichten wir Maxhütte, ein Ort der sich für mich mit dem Kampf um ein Stahlwerk „Maxhütte muss bleiben“ verband. Von außen verfolgte ich damals den Kampf der Belegschaft und der Gewerkschaften, nun sah ich, in welcher Gegend dieses Stahlwerk lag und welch existenzielle Notwendigkeit der Kampf um jeden Arbeitsplatz darstellte.
Wie üblich mit einigen Minuten Verspätung erreichten wir den Zielbahnhof Regensburg. Dort wurden wir von Luise abgeholt, die sich seit vielen Jahren in dieser Stadt für die VVN-Arbeit engagiert. Sie fuhr mit uns direkt zu sich nach Hause, wo wir zum Mittagessen eingeladen waren. Nach einer „gefühlten halben Weltreise“ kamen wir in Lappersdorf, einem Nachbarort am nördlichen Stadtrand von Regensburg an, wo sie mit ihrem Lebensgefährten Willi lebt. Der – ein gelernter Koch – hatte ein phantastisches Mittagessen zubereitet, das uns für alle Mühen der Zugreise entschädigte. Und als wir bereits satt und zufrieden waren, tischte er auch noch ein selbstgemachtes Tiramisu auf, so dass dieses Mahl wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Während des Essens erfuhren wir aber gleichzeitig viel über die Wirklichkeit von Beschäftigten in der Gastronomie. Willi hatte viele Jahre im Service gearbeitet und berichtete, wie übel den Kellnern oder Servicekräften in machen Nobelrestaurants mitgespielt wurde, aber auch, wie sich Kellner gegen solche Ausbeutung wehrten.
Da die Rezeption unseres Hotel erst um 16.00 Uhr öffnete, fuhr Luise uns nach dem Essen wieder in die Stadt. Als wir auf die Hauptstraße fuhren, konnten wir auf der anderen Donauseite bereits den Dom sehen und da wurde mir klar, dass wir quasi um ganz Regensburg herum gefahren waren, um nach Lappersdorf zu kommen. Durch die Sperrung einer Donaubrücke wurde der gesamte Straßenverkehr über die neue Brücke umgeleitet, was besonders viel Verkehr produziert.
Unser Hotel lag mitten in der Altstadt und in Laufnähe des Hauptbahnhofs, so dass wir am Nachmittag noch auf eigene Faust durch die Stadt gehen konnten. Leider war das Wetter recht schlecht, es nieselte leicht, dass es nur wenig Spaß machte, durch die Straßen zu streifen. Dennoch reichte es für einen ersten Eindruck einer wunderbar erhaltenen Altstadt mit verwinkelten Gassen und vielen sehr ordentlich rekonstruierten alten Gebäuden. Für einen Bewohner Kassels, der in seiner Stadt nur vereinzelte Beispiel von historischer Bausubstanz kennt, ist Regensburg ein wirkliches Ensemble alter Wohn- und Lebenskultur, mit einer technischen Meisterleistung – der Steinernen Brücke über die Donau – in ihrem Zentrum. Zurecht ist diese Stadt in das Weltkulturerbe aufgenommen worden. Auffällig ist, dass die Sünden des Städtebaus der 50er und 60er Jahre, die auf den Abriss von alter Bausubstanz hinausliefen und den Umbau der Städte für den Autoverkehr versuchten, in Regensburg nicht solche Verheerungen angerichtet hatten, wie in vielen anderen Orten. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass die kriegsbedingten Zerstörungen der Stadt sich tatsächlich in Grenzen gehalten hat.
Was die kriegsbedingten Folgen in Regensburg betrifft, so trafen wir natürlich auch auf die Erinnerungsstätten für die beiden Regensburger, den Domprediger und einen Lagerarbeiter, die am 23. April 1945 versucht hatten, als Sprecher einer Demonstration Regensburger Einwohner eine kampflose Übergabe der Stadt an die heranrückenden amerikanischen Truppen zu erreichen. Die beiden wurden durch die Gestapo verhaftet und wegen „Feigheit vor dem Feind“ durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und in der Nacht zum 24. April öffentlich erhängt. Bezeichnend war, dass der Bischof von Regensburg, der über viele Jahre hinweg dem faschistischen Regime treu ergeben war, in dieser Situation keinerlei Anstalten machte, sich für die Rettung dieser beiden Bürger einzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist es schon ambivalent, wenn im Dom von Regensburg ein Buch ausliegt, in dem Gläubige mit ihrer Unterschrift sich für die Seligsprechung des Dompredigers einsetzen sollten. Solch ein Engagement zur rechten Zeit hätte nicht nur das Leben dieser beiden retten können, sondern durch die Verkürzung der faschistischen Herrschaft Tausenden geholfen zu überleben.
Unsere Lesung fand in einem Nebenraum einer Regensburger Traditionskneipe statt. Auch hier war die GEW Mitveranstalter der Lesung, wobei dies eher ein politisches Signal war, weniger die Voraussetzung für einen Massenbesuch. Denn insgesamt kamen etwa 20 Zuhörer an diesem Abend zusammen. Erfreulich war dabei, dass diesmal die Hälfte der Besucher deutlich unter 25 Jahren waren, also eine Zielgruppe, die Peter Gingold selber als sein wichtigstes Publikum angesehen hat. Den zukünftigen Generationen die Erfahrungen des Kampfes weiterzugeben, das war sein zentrales Anliegen.
Wir hatten schon in Hof das Lesungskonzept etwas angepasst und insbesondere den Bericht über die Enttarnung des Spitzels aufgenommen. Dies schien uns spannender zu sein, als die Schilderung der Erfahrungen in der Gestapo-Haft. Und tatsächlich haben wir auch diesmal erlebt, dass die jungen Leute bei dieser Szene mit besonderer Aufmerksamkeit zuhörten. Aus Zeitgründen trugen wir aus den Berichten über die Nachkriegszeit nur drei Texte vor, der Umgang der Nachbarn mit ehemaligen Verfolgten und Antifaschisten, die Ausbürgerung und damit Entrechtung der Familie Gingold und das Berufsverbot für Silvia und die damit verbundene Auseinandersetzung. Und es war das Thema der Berufsverbote, dass am Ende der Lesung zu mehreren Nachfragen führte. Während ältere Zuhörer aus eigenem Erleben darauf hinweisen konnten, dass die Berufsverbote-Politik nicht nur Silvia betraf, sondern viele andere aus ihrem Bekanntenkreis davon betroffen wurden, erschreckte es die jungen Zuhörer zu erfahren, dass nicht nur Lehrer, sondern auch Postbeamte und Lokführer davon betroffen waren und dass neben den tatsächlichen Berufsverbotsopfern noch 100.000 junge Menschen durch Anhörungen, Bespitzelungen und anderen Formen der Einschüchterung betroffen waren. Dieses Interesse für die Berufsverbote-Thematik war für uns auffällig, es scheint jedoch für Bayern auch deshalb von großer Bedeutung zu sein, weil die Landesregierung – mit Rückendeckung der schwarz-gelben Bundesregierung und ihrem „Kampf gegen Linksextremismus“ – durch „Verpflichtungserklärungen“ für öffentliche Bedienstete, die bereits in der Privatwirtschaft adaptiert wurde, und Denunziationen im Verfassungsschutzbericht in zunehmendem Maße für ein Klima der Einschüchterung und der Ausgrenzung sorgt. So ist das Thema „Berufsverbote“, selbst wenn öffentlich noch nicht davon gesprochen wird, für junge Leute allgegenwärtig. Sie erleben am eigenen Leib, wie politischer Druck funktioniert und das in einer gesellschaftlichen Situation, in der der solidarische Zusammenhalt, die Bereitschaft zur Organisation durch eine Tendenz zur Individualisierung nachhaltig gestört worden ist. Vielleicht kann ja der Rückbezug auf Peters Erinnerungen, der als eine seiner Botschaften die Notwenigkeit der Organisation im politischen Handeln betonte, helfen, hier eigene Orientierungen zu finden. In einer Nachbetrachtung auf den Abend waren Silvia und ich jedenfalls einhellig der Meinung, dass es eine gelungene Lesung war, die tatsächlich die jungen Menschen erreicht hat. Was kann man mehr von solch einer Veranstaltung erwarten?
Eine kleine Episode blieb noch in Erinnerung: Nach der Veranstaltung kam die Kellnerin zu uns und bat, einen Blick auf das Buch werfen zu dürfen. Sie habe beim Servieren mit halben Ohr zugehört und es sei so interessant gewesen, dass sie doch mal wissen wollte, um was es in dem Buch denn gegangen sei. Silvia erklärte es ihr gerne.
Der kommende Tag meinte es gut mit uns. Zwar war es am Vormittag ziemlich kalt, aber es bliebt trocken, und als kurzzeitig die Sonne zwischen den Wolken hervorkam, wurde es sogar angenehm, so dass man gut durch die Altstadt schlendern konnte. Und da sah ich auch die „zweite Einnahmequelle“ der Stadt Regensburg, den Tourismus. Allein in der kurzen Zeit von 10.00 bis 11.30 Uhr begegneten mir etwa 10 Besuchergruppen, die durch die Altstadt geführt wurden. Da die offiziellen Stadtführer mittlerweile mit Head-Set ausgestattet sind, stören diese Gruppen nicht mehr so sehr, indem sie Haufen bilden. Der Nachteil ist jedoch, dass man auch nicht mehr mit „halbem Ohr“ den Erläuterungen zuhören kann, ohne sich an der gesamten Führung beteiligen zu müssen. So musste ich halt mit Aufmerksamkeit die verschiedenen Schilder und Gedenktafeln suchen, um etwas über den jeweiligen historischen Hintergrund zu erfahren.
Lesung in Freising
Am Donnerstag machten wir uns nach der Mittagspause zu unserer vierten Station auf, nach Freising. Bevor wir eine Fahrkarte lösen konnten, sprach uns eine Studentin an, die ein Bayern-Ticket hatte, auf dem noch vier Personen mitreisen konnten, ob wir mitreisen wollten. Ich sagte zu und wir bezahlten ihr unseren Anteil und machten uns mit drei uns völlig unbekannten Personen auf den Weg Richtung München. Ich bemerkte, dass nicht nur diese Studentin auf solche Weise das Ticket ökonomisch einsetzte, sondern auch andere „Zufallsgruppen“ sich am Bahnhof fanden. Angesichts der sonst üblichen Ticketpreise der Bahn ein durchaus sinnvolles Prinzip, wenn man denn den Regionalverkehr nutzen muss.
Wegen Bauarbeiten auf der Strecke kamen wir mit deutlicher Verspätung in Freising an, was aber unseren Gastgeber, Guido, nicht überraschte, da er regelmäßig diese Verbindung nutzen muss und solche Verspätungen gewohnt war. Zu Fuß machten wir uns bei gutem Wetter auf den Weg in die Innenstadt – und in der Tat waren es knapp 15 Minuten, bis wir die Hauptverkehrsstraße und unser Hotel erreichten. Auch wenn dieser Ort nicht wirklich groß erschien, so nahmen wir das Angebot einer kurzen Stadtführung gerne an. Zuerst führte uns Guido auf den Domberg. Der Dom ist der zweite Sitz des Bischofs von München und Freising. Folgerichtig ist es ein Prunkbau erster Güte. Auch wenn die Kirche vom Äußeren her keine architektonische Besonderheit darstellte, so war ihre barocke Innengestaltung völlig erschlagend. Den Hochaltar zierte ein Monumentalgemälde von Peter Paul Rubens. Nur diesmal waren die Frauenfiguren bekleideter als in vielen anderen seiner Gemälde. Die gesamte Kirche war mit Szenen aus dem Leben des heiligen Corbinians ausgestaltet. Ich weiß auch nicht, warum ich dabei immer an ein Kinderbuch denken musste, wo ein Ochse den Namen Corbinian trug. Welchen volkspädagogischen Charakter die Ausgestaltung der Kirche hatte, zeigte unter anderen eine Marienfigur, die als „mater dolorosa“ mit einer Speer, der ihr Herz durchbohrt, dargestellt wurde. Zu ihren Füßen befand sich ein Totenschädel, aus dessen toten Augen sich Gewürm schlängelte. Dass in dieser Kirche noch an anderer Stelle recht drastische Darstellungen zu finden waren, zeigte uns Guido in der Krypta. Eine Säule, die den Kampf des Guten mit den Drachen zeigte, war ebenfalls dort zu besichtigen. Interessanterweise ist in der Darstellung – anders als bei vielen Figuren des Heiligen Georg – nicht erkennbar, wer diesen Kampf gewinnt. Verschiedene Kunsthistoriker haben sich schon an dieser Säule abgearbeitete, jedoch mit wenig überzeugenden Ergebnissen. Nach so viel Mystischem wurden wir beim Verlassen der Kirche direkt mit der brutalen Wirklichkeit konfrontiert. Von diesem Hügel hatte man einen unverbauten Blick in das Erdinger Moos – heute besser bekannt als Großflughafen „Franz-Joseph-Strauß“. In einer Frequenz, die durchaus Ähnlichkeiten mit Frankfurt hat, konnte man die Starts und Landungen nicht nur sehen, sondern bei entsprechender Windrichtung auch deutlich hören. Und so leuchteten mir die Plakate, die wir auf dem Weg durch die Stadt gesehen hatten, sofort ein: „Keine 3. Startbahn“. Besonders zynisch nahm sich die Begründung der politisch Verantwortlichen für den Bau des Flughafens in dieser Region aus: Man habe München – Riem nicht ausbauen können, da der Flughafen zu nahe am Stadtgebiet läge. Von Freising zum neuen Großflughafen war es aber ebenfalls nur ein „Steinwurf“, aber das war für die Bayerische Landesregierung weniger bedeutend. Obwohl dieser kleine Ort, der – wie wir dann erfuhren – fast 50.000 Einwohner hat, eher katholisch und konservativ dominiert ist, fanden wir an mehreren Stellen Erinnerungszeichen an die faschistische Verfolgung. Getragen von einer Bürgerinitiative, in der die VVN-BdA aktiv mitwirkt, waren an verschiedenen Stellen „Stolpersteine“ verlegt worden. Auch konnte erst kürzlich eine Straße nach einem Antifaschisten benannt werden – auch wenn das nur durch einem Deal mit der CSU möglich wurde. Selbst das obligatorische Denkmal für alle Kriegsopfer, was in vielen Kleinstädten eher den Charakter eines Kriegerdenkmals besitzt, war mit einer relativ neuen Aufschrift versehen, die von der Verpflichtung der Nachgeborenen zum Frieden sprach. Was kann man von einer CSU-Gemeinde mehr erwarten?
Zum Abschluss des Rundgangs kamen wir nach Weihenstephan, einem Ortsteil, der nicht allein wegen der Brauerei und der Molkerei weit über Bayerns Grenzen berühmt ist. Doch hier ist jedes Bild einer Idylle fehl am Platz. Nachdem der Müller-Konzern kürzlich die Molkerei übernommen hatte, wurde als erstes die Joghurtproduktion geschlossen, wobei auch heute noch Produkte unter diesem Namen angeboten werden. Wen interessiert es schon, dass diese Becher in der Großabfüllanlage von Müller-Milch produziert werden, wenn denn die Illusion besteht, man bekomme die „gute Milch aus Weihenstephan“.
Am Abend gingen wir zur geplanten Lesung in das Lokal „EtCetera“, offenbar eine Szenelokal für junge Leute in der Stadt. Obwohl Guido vorher skeptisch war und uns schonend darauf vorbereiten wollt, dass man nie sagen könne, wie viele Leute kämen, saßen mit Beginn der Lesung sechzehn Interessenten zusammen, wobei die Altersgruppe der etwa 50 jährigen dominierte. Wie das in einer solchen Kleinstadt üblich ist, kannte man sich aus den verschiedensten Zusammenhängen. Einige VVN – Mitglieder, Mitglieder der Linken und der Grünen, Vertreter der Gewerkschaften und der Bürgerinitiative „Freising ist bunt“. Manche von ihnen hatten Peter Gingold noch persönlich getroffen. Nach der Lesung berichtete ein Zuhörer noch davon, wie sehr ihn Peters Auftreten beim UZ – Pressefest während einer Veranstaltung im überfüllten Zelt der Sozialistischen Arbeiterjugend beeindruckt habe.
Lag es am Saal oder nur an der Zusammensetzung des Publikums? Irgendwie war ich am Anfang etwas unsicher, ob es uns hier gelingen würde, die Aufmerksamkeit für den Text zu finden, wie in den vergangenen Lesungen. Silvia formulierte später ihren Eindruck, dass sie sich hier wohler gefühlt habe als in früheren Lesungen, da sie hier „auf Augenhöhe“ mit den Zuhörern gewesen sei. Und sie hatte sicherlich recht, denn die Lesung lief ganz phantastisch. Es gab die gleiche gespannte Aufmerksamkeit wie in anderen Orten. Die Zuhörer gingen genauso emotional mit an den Stellen, bei denen man entspannt lachen kann, wie an den Textstellen, die eine tiefe Betroffenheit zurücklassen. Am Schluss der Lesung gab es diesmal eine längere Aussprache mit dem Publikum, die sich sowohl um das Berufsverbot für Silvia und die Fortsetzung ihrer Berufstätigkeit drehten, als auch die persönlichen Bezüge zu Peter Gingold nachzeichneten. Eine Zuhörerin formulierte ihren Eindruck von der Lesung verbunden mit ihren Erinnerungen an Peter Gingold in den Worten: Peter Gingold sei auch für diejenigen, die nicht Kommunisten waren, so überzeugend gewesen, da er – trotz aller schweren und schlimmen Erfahrungen nicht „verbiestert“ aufgetreten sei, sondern für seine politische Überzeugung „geglüht“ habe. Er habe durch Optimismus und positive Aussagen überzeugt und nicht durch Vorwürfe oder Kritik an den vorgefundenen politischen und gesellschaftlichen Zuständen. Dieses Gefühl haben wir auch versucht mit der Auswahl der Texte den Zuhörern nahe zu bringen. Wie erfolgreich unser Bemühen war, zeigte sich auch daran, dass wir an diesem Abend allein neun Bücher verkaufen konnten.
Nach dem offiziellen Ende der Lesung saßen wir noch mit mehreren Gästen in der Kneipe zusammen. Nun ging es nicht allein um Peter Gingold, sondern um tagespolitische Auseinandersetzungen in den verschiedenen politischen Strukturen, in denen die Gäste engagiert waren, wie die Debatten um das Strukturmodell des DGB mit dem Rückzug aus der Fläche, die Auseinandersetzung um die „dritte Startbahn“, den Bayerischen Verfassungsschutzbericht und die Folgen für die antifaschistische Arbeit sowie Diskussionen in verschiedenen linken Gruppen, die auch in Freising für „Wellen“ sorgten. Als wir gegen halb zwölf das Lokal verließen, gingen wir mit einem guten Gefühl in unsere Unterkunft. Wir hatten scheinbar einen Querschnitt des linken Freisings an diesem Abend bei uns zu Gast und konnten sie für unser Anliegen einnehmen.
Anders als ursprünglich geplant, machten wir uns am folgenden Tag schon zwei Stunden früher auf den Weg nach Würzburg, unterbrachen unsere Fahrt aber für einen kurzen Aufenthalt in München. Und tatsächlich schafften wir in dieser Zeit eine Tour durch das historische, das touristische, das gastronomische und das politische München. Dazu reichte uns ein Gang vom Hauptbahnhof über Stachus, Karlstor, Fußgängerzone, Marienplatz und Rathaus bis zum Viktualienmarkt und zurück. Muss man mehr von München gesehen haben?
Die Lesung in Würzburg
Mit der schon üblichen Verspätung trafen wir in Würzburg, unserer letzten Station der Lesereise, ein. Auch dies ein Bischofssitz mit langer Geschichte und zahlreichen Kirchen und Repräsentationsbauten. Durch die Zerstörungen im Krieg fehlt hier ein geschlossenes Ensemble. Vielmehr sah man neben rekonstruierten historischen Gebäuden die verschiedenen architektonischen Bausünden, wie sie in zahlreichen deutschen Städten anzutreffen sind. Wir wurden wieder von einem Kameraden der Kreisorganisation abgeholt, der uns aber diesmal weniger die „Schönheiten“ der Stadt zeigte. Da Silvia und ich bereits Würzburg kannten und es trotz Sonne recht kalt war, verzichteten wir auf die übliche Stadtführung. Im Café sitzend debattierten wir über die politische Situation und ließen uns die regionalen Besonderheiten erläutern. Da unser Gesprächspartner im Stadtparlament saß, erhielten wir recht detaillierte Informationen. Es wurde deutlich, dass es für Antifaschisten in einer solch katholisch geprägten Stadt sehr widersprüchliche Erfahrungen gibt, einschließlich der örtlichen Bündnispolitik, wenn es beispielsweise um die Durchsetzung von Stolpersteinen geht. Auf unserem Weg durch die Stadt zeigte Holger mir auch den Gedenkraum der Stadt zur Erinnerung an das Bombardement vom Februar 1945, dem etwa 90% der Innenstadt zum Opfer fiel. Erfreulich war zu sehen, dass in den zweisprachigen Ausstellungstafeln tatsächlich auch Ursache – faschistische Herrschaft und Kriegspolitik – und Wirkung – Bombardement mit den Folgen für die Zivilbevölkerung – in einen richtigen Zusammenhang gestellt worden sind. Ein Flyer wies auf eine Tagung hin, auf der es insbesondere um das Erinnern und die richtige Form des Gedenken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gehen sollte. Ein dankbares Thema für die geschichtspolitische Arbeit, dem sich auch die örtliche VVN stellen müsste. Leider stößt die Organisation dabei – aus unterschiedlichen Gründen – an die Grenzen ihrer personellen und kräftemäßigen Möglichkeiten. Aber einen Stolperstein für einen kommunistischen Widerstandskämpfer aus Würzburg hatte sie durchsetzen können.
Die abendliche Lesung fand in den Räumlichkeiten einer örtlichen Buchhandlung statt, die auch schon für andere linke Themen die Räumlichkeiten gestellt hatte. Und so waren neben VVN- Mitgliedern auch Kunden aus der Buchhandlung anwesend, die ein eher literarisches Interesse an dem Buch mitbrachten, wobei insgesamt die Teilnehmerzahl unter dem Freitagstermin litt. Silvia und ich ließen sich davon nicht beirren. Wir präsentierten die Textauswahl, wie wir sie erfolgreich auch in den vorangegangenen Lesungen vorgestellt hatten. Und in der Tat kam diese Auswahl gut an. Eine Zuhörerin hatte das Buch schon aufmerksam gelesen und sie ergänzte zum Abschluss, dass ihr eine andere Episode aus dem Buch besonders intensiv in Erinnerung geblieben sei, nämlich die Tatsache, dass die Anwesenheit der jüdischen Familie in Meriel für die französischen Dorfbewohner ein offenes Geheimnis gewesen sei – und dennoch sich niemand als Denunziant betätigt habe. Daran schloss sich eine kurze Fragerunde über Widerstand und Kollaboration an, in der weniger über Peter Gingold gesprochen wurde als über allgemeine historische Zusammenhänge. Insgesamt dauerte diese Veranstaltung knapp zwei Stunden – länger als manch andere Lesung zuvor. Trotz der etwas distanzierteren Haltung zum Buch waren Silvia und ich durchaus zufrieden, ebenso wie der Buchhändler, der verblüfft war, dass gut die Hälfte der für die Lesung bestellten Bücher verkauft wurde. Er habe schon Lesungen mit weit mehr Zuhörern gehabt, bei denen der Buchumsatz deutlich geringer ausgefallen sei, kommentierte er zum Abschluss.
Ein kurzes Resümee
Für uns war mit dieser Lesung unsere Rundreise durch Bayern beendet. Am Samstagmorgen machten wir uns wieder auf den Weg zurück nach Kassel. Es war sicherlich eine anstrengende Reise, aber auch eine interessante Erfahrung, in welch vielfältiger Form das Buch von Peter Gingold Menschen unterschiedlicher Überzeugung und verschiedener Generationen zusammengebrachte. Jede Lesung war in ihrer Art und Zusammensetzung einzigartig, aber es immer wieder erstaunlich und beeindruckend zugleich, mit welcher Aufmerksamkeit und Intensität die autobiographischen Aufzeichnungen von Peter aufgenommen wurden. Das macht Mut, in seinem Sinne weiterzuarbeiten. Peters Bericht ist also nicht nur ein Mutmacher für die Zuhörer, sondern auch für uns als Akteure. Dabei freuten wir uns insbesondere über alle jungen Gäste, die diese Lesungen besuchten. Insbesondere für sie hat Peter geschrieben – und wenn wir sie erreichen, setzen wir in gewissem Maße seine Arbeit fort.
Ob es nach diesen Erfahrungen bei der Rundtour durch Bayern noch einmal zu einer weiteren Lesereise kommt, steht noch nicht fest. Lesungen in verschiedenen Städten werden wir jedoch noch einige machen.