Gedenkstunde in Hebertshausen

4. Mai 2013

Nach der Befreiungsfeier in der KZ-Gedenkstätte Dachau versammelten sich am 5. Mai 2013 ca. 80 Menschen zum „Friedensweg“ am Gedenkstein für die ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem ehemaligen SS-Schießplatz bei Hebertshausen.Mehr als 4000 Gefangene wurden 1941/42 hier erschossen.

Nach einem Trompetenstück, gespielt von Wolfgang Kohl, und der Begrüßung durch Ernst Antoni (VVN-BdA) hielt der Überlebende des KZ Theresienstadt Ernst Grube, Stellvertretender Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, die nachstehende Rede.

Nach ihm sprachen Ljuba Vaserina, Freiwillige der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, und der ehemalige Häftling im KZ Dachau, Naum Cheifez, beide aus Belarus.

Sergej Tenjatnikow, Begleiter und Übersetzer der Delegation ehemaliger Häftlinge aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, trug ein eigenes Gedicht vor.

Am Ende der Gedenkstunde legten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer rote Nelken vor den Gedenksteinen nieder.

Ernst Grubes Rede im Wortlaut:

„Seit vielen Jahren versammeln wir uns hier an diesem Ort, um der von der SS in den Jahren 1941/42 ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen zu gedenken.

Über 4500 Menschen wurden hier ermordet. Soldaten, die ihre Heimat gegen den faschistischen Angreifer verteidigt haben.

Ohne den Einsatz der sowjetischen Menschen, der Roten Armee, wäre es den Alliierten wohl kaum gelungen, den Krieg gegen die deutsche Wehrmacht zu gewinnen. Die befreiten Häftlinge der Konzentrationslager, der Ghettos und Kriegsgefangenenlager hätten nicht überlebt. Die „Arbeit“ der Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec und andere wäre bis „zur Auslöschung der jüdischen Rasse“ fortgesetzt worden. Der Terror im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten hätte sich fortgesetzt. Das Grundgesetz, wie wir es heute kennen, hätte es nie gegeben.

Welche Bedeutung hat die Erinnerung heute?

Wir wissen:

Sofort nachdem den Nazis 1933 die Macht übertragen worden war, haben sie den in der Weimarer Republik propagierten Antisemitismus in die Praxis umgesetzt:

Jüdische Bürger wurden angegriffen, jüdische Läden wurden boykottiert und zerstört. Bestimmungen und Gesetze wurden erlassen, die – allen voran – uns Juden aus der Gesellschaft zunehmend ausgrenzten.

Zuerst wurden den gewählten Kommunisten und später den Sozialdemokraten die Mandate genommen und ihre Parteien verboten. Als politische Gegner wurden sie verhaftet, oftmals gefoltert und kamen in Gefängnisse und die neu errichteten Konzentrationslager.

Maßnahmen zum Ausbau der deutschen Wehrmacht und zur Vorbereitung eines Krieges wurden in Angriff genommen.

Dies – und mehr – konnten die Nazis, gestützt auf den Terror gegen die Arbeiterbewegung, deshalb so erfolgreich durchsetzen, weil es ihnen zunehmend gelang, ihre menschenfeindliche Ideologie des Antikommunismus, des Rassismus und des Herrenmenschentums bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu verankern und zu festigen. In seiner Propaganda einer „jüdisch-bolschewistischen Gefahr“ hatten der NS-Staat und seine Helfer ein innen- und außenpolitisch wirksames Feindbild geschaffen, das hemmungslose Vernichtung erlaubte und forderte.

Es ist diese menschenfeindliche Ideologie und die damit einhergehende Strategie der Gewalt, die so gefährlich ist. Sie setzt sich in den Gehirnen fest. Nimmt den Menschen jede Kritikfähigkeit und jede Bereitschaft des Widerstandes. Sie werden zu Zuschauern, Jasagern und schließlich zu Mitmachern.

Gegen diese Ideologie wurde nach der Befreiung und nach der Gründung der Bundesrepublik kaum etwas unternommen.

Im Gegenteil:

Wie wir heute im Zusammenhang mit der um Jahrzehnte – über ein halbes Jahrhundert – verspäteten und verzögerten Ermittlung gegen 50 noch lebende ehemalige Aufseher des KZ- und Vernichtungslagers Auschwitz wieder einmal erfahren, „war die Verfolgung der Naziverbrecher damals nicht mehrheitsfähig“.

In den bundesdeutschen Ämtern waren bis zu 2/3 ehemalige Verantwortliche der Nazibehörden, so dass selbst die Ermittlungsstelle in Ludwigsburg ihre Erkenntnisse bei den „normalen Fahndungsbehörden“ nicht unterbringen konnte.

Das alles wissen heute die Verantwortlichen des Staates in den Parlamenten und Ämtern!

Wie ist es dann möglich,

• dass neonazistische und andere rassistische Organisationen ihre menschenfeindliche Ideologie u.a. auf Demonstrationen und Kundgebungen fast immer ungehindert verbreiten können? Und Menschen und Organisationen, die sich dem entgegenstellen, immer noch als sog. „linksextremistische“ Verfassungsfeinde beobachtet und kriminalisiert werden?

• dass die Bundesregierung es ablehnt, sich dem Verbotsantrag der Länder gegen die NPD anzuschließen, um damit ein wichtiges Zeichen zu setzen?

• dass der Verfassungsschutz bei der Verfolgung und Verhinderung von Verbrechen der Neonazis ganz versagt hat, und nicht nur durch Geldmittel den Aufbau von Nazistrukturen gefördert hat?

• dass Menschen, die bei uns Hilfe und Asyl suchen, zum größten Teil abgewiesen werden? Und, wenn sie es schaffen hier anzukommen, unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen? Wie ist es möglich, dass auch Politiker sich häufig mit denselben rassistischen Vorurteilen wie damals gegen Menschengruppen stellen, die hier Schutz und Recht suchen?

Absolut unverständlich ist mir auch, dass die Justiz das Verfahren gegen Kriegsverbrecher eingestellt hat, die 1944 in Sant Anna in Italien 560 Menschen ermordet haben.

Man muss die Verbrechen der Nazis nicht kennen, um heutige Verbrechen als solche zu erkennen, zu bekämpfen und zu verurteilen.

Das Wissen und unsere Erfahrung, wohin Antikommunismus, Antisemitismus, jeglicher Rassismus und Krieg führen, zeigt jedoch, wie dringend notwendig es ist, sich dagegen zu wehren.

So müssen wir gerade hier an diesem Ort furchtbarster Naziverbrechen immer wieder beklagen, dass der Anteil der Sowjetunion, der Roten Armee an der Niederschlagung des Faschismus in der Erinnerungskultur in Bayern und in der Bundesrepublik kaum Erwähnung findet.

Es ist nach wie vor die Wirkung des Antikommunismus, die einen sachlichen, würdigen und historisch wahren Umgang mit der Geschichte bisher behindert.

Dazu gehört auch, dass die Bundesregierung bis heute den wenigen noch lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen eine humanitäre Geste der Anerkennung des NS-Unrechts verweigert.

27 Millionen Sowjetbürgerinnen haben ihr Leben durch den Vernichtungskrieg des NS -Staates verloren. Der Hungertod der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen war fest eingeplant. Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurden 3,3 Millionen aus rasse-ideologischen Gründen Opfer der NS-Gewaltherrschaft.

In einem Appell der Organisation KONTAKTE zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2013, der von namhaften Persönlichkeiten unterschrieben ist, heißt es unter anderem:

„Diese ‚Russenlager‘ waren Sterbelager. Die Haftbedingungen waren zeitweise grausamer als in Konzentrationslagern. Warum wird das ignoriert? Die Bundesregierung wird aufgefordert, ehemalige sowjetische Kriegsgefangene nicht weiterhin zu missachten und eine Geste der Anerkennung zu beschließen!“

In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 25. April wird die Frage gestellt, „warum es in Deutschland noch kein Denkmal für sowjetische Kriegsgefangene gibt?“

Danke.“