Eine Antifaschistin im Schatten des Verfassungsschutzes / Zeitzeugengespräch von VVN-BdA und GEW mit der Lehrerin Silvia Gingold

9. Oktober 2019

Silvia Gingold (Foto: privat)

Ziemlich genau vor acht Jahren kam die ehemalige Lehrerin schon einmal nach Hof: zu einer Lesung aus der Autobiografie ihres 2006 verstorbenen Vaters, des berühmten Kämpfers der Resistance. Die Auftritte Peter Gingolds, der von den Nazis doppelt verfolgt wurde als Kommunist und Jude, bei den Protesten gegen die Nazi-Aufmärsche in Wunsiedel hat der Verfassungsschutz ebenso fein säuberlich gespeichert wie jede einzelne der zahlreichen Lesungen seiner Tochter im ganzen Land. In seiner Autobiografie beschreibt er, wie seine Frau Ettie und er nach ihrer Rückkehr aus Frankreich aus der gegenüber liegenden Wohnung in Frankfurt tagaus, tagein überwacht wurden.

Seit die jetzt 73-Jährige siebzehn Jahre alt war, klebt wie ein Schatten der Verfassungsschutz auch an ihrer Seite. Zu keinem Zeitpunkt wurden ihr, dem wohl prominentesten Berufsverbotsopfer der 70er Jahre, antidemokratische bzw. verfassungswidrige Aktivitäten nachgewiesen. Doch Silvia Gingold, Sprecherin der VVN – BdA in Hessen und Mitglied des Kasseler Friedensforums, wird weiterhin „beobachtet“.

Bernd Mangei vom Kreisvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hof-Wunsiedel begrüßte die Aktivistin aus Kassel sehr herzlich. Man dürfe „die mehr als 20 Jahre dauernde Zeit der Berufsverbote mit der Bespitzelung von 3,5 Millionen BRD-Bürgerinnen und -Bürger nicht der kollektiven Verdrängung überlassen“. Aktueller Ausgangspunkt des Zeitzeugengesprächs war an diesem Abend jedoch Silvia Gingolds juristische Auseinandersetzung mit dem hessischen Innenministerium.

Akteneinsicht hat sie mittlerweile juristisch durchgesetzt. 131 Seiten des Dossiers durfte sie allerdings nicht lesen bzw. waren größtenteils geschwärzt – Begründung: „Quellenschutz“. Dafür konnte die Kollegin den staunenden Anwesenden eine DVD der anderen Art präsentieren, quasi als Krönung der Spitzelergebnisse: Darauf hatten die Schlapphüte eigens Silvia Gingolds Redebeiträge auf einer Podiumsveranstaltung in Marburg zum Thema Überwachungsstaat festgehalten! Mit ihr im Podium saß der LINKE und heutige Ministerpräsident Bodo Ramelow, da er ebenfalls vom V-Schutz beschattet worden war. Sein Beitrag war auf der V-Schutz-DVD leider nicht enthalten.

Gingolds Klage auf Offenlegung, Stopp der Datensammeltätigkeit und Löschung der Schnüffelergebnisse wurde vor zwei Jahren abgewiesen. Denn mit ihren Lesungen wie auch mit ihrem Antinazi-Engagement verfolge das VVN-Mitglied in Wahrheit nur das eine Ziel: „Den Kapitalismus mit seinen Wurzeln auszurotten“, mit Hinweis auf den berühmten Schwur der überlebenden KZ-Häftlinge von Buchenwald. Antifaschismus sei bekanntlich „das Kernthema von Linksextremisten.“ So werde Kapitalismuskritik als „verfassungsfeindlich“ stigmatisiert und kriminalisiert, kritisierte Gingold. „Das Grundgesetz selbst schreibt keine bestimmte Gesellschaftsordnung vor.“

Das erstinstanzliche Urteil rief mit seinen Kalte-Kriegstönen nicht nur im linken Lager heftiges Kopfschütteln hervor – ein Skandal! Dagegen will Gingold Berufung einlegen. Sie erhält dabei Rechtsschutz von der GEW – wie schon einmal, als sie dank einer breiten Solidaritätskampagne im In – und Ausland erfolgreich gegen ihr Berufsverbot wegen DKP-Mitgliedschaft kämpfte. Heute fordert sie zusammen mit hunderten anderen Berufsverbotsopfern Rehabilitierung und Wiedergutmachung. Eine Illusion? Ihr selbst geht es nicht vorrangig um finanzielle Gleichstellung, sondern um Solidarität und darum, „Öffentlichkeit herzustellen über die Methoden des Inlandsgeheimdienstes.“

Gleichzeitig dürften sich AfD-Funktionäre mit rassistischen Äußerungen hervortun und dennoch Schulleiter werden, kritisierte Sebastian Lehmann vom GEW-Kreisvorstand. Ungestraft könnten führende Mitglieder dieser rechtsradikalen Partei das Holocaust-Denkmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ beschimpfen und die Nazi-Diktatur als „Vogelschiss der Geschichte“ abtun.

Die ehemalige Lehrerin Silvia Gingold, Tochter von zwei hoch geehrten antifaschistischen Widerstandskämpfern und Berufsverbotsbetroffene, berichtet auf Einladung der Bildungsgewerkschaft GEW und der VVN-BdA Kreis Hof- Wunsiedel über ihre Erfahrungen mit dem Verfassungsschutz; (Foto: privat, rechts: Thomas Etzel, Mitte: Silvia Gingold, links: Eva Petermann.

Silvia Gingold erinnerte daran, dass seinerzeit in ihrem Wohnort Kassel bei der NSU-Ermordung von Halit Yosgat in einem Internet-Cafe ein V-Schutz-Agent nebenan am PC saß. Und ganz aktuell: Der des Mordes an dem Regierungspräsidenten Lübke verdächtige, vorbestrafte Neonazi war einschlägig polizei- und gerichtsbekannt. Trotzdem hielt der Inlandsgeheimdienst seine Beobachtung nicht mehr für lohnend – zumindest vorgeblich.

So entstehe ein beklemmender Eindruck von „Vertuschung und Verstrickung“ dieser allzu mächtigen Institution, sagte Silvia Gingold. Dazu Randolph Oechslein von der DKP Hof: „Ist nicht vor einigen Jahren das Verbot der neofaschistischen NPD daran gescheitert, dass sich zu viele Vorstandsmitglieder als vom V-Schutz-Agenten herausstellten?“ Der Inlandsgeheimdienst agiere außerhalb demokratischer Kontrolle und „stellt somit selbst eine Gefahr für die Demokratie dar“, befand Silvia Gingold. Es entstehe wiederum „ein Klima der Anpassung und des Duckmäusertums“. Opportunismus, Angst um die Karriere und Gleichgültigkeit bei der Mehrzahl des Lehrpersonals führten bereits vor 1933 zur Anpassungsbereitschaft der Lehrerschaft, warnte Eva Petermann, VVN-BdA-Kreisvorsitzende. Die einst selbst vom Berufsverbot Betroffene wies auf dieses „jämmerliche Resümee“ eine neueren Studie zur „ideologischen Ausrichtung der Lehrerschaft 1933 – 1945“ hin.

Späte Einsicht übrigens habe den Mit-Initiator des „Radikalenerlasses“ von 1972, Willy Brandt, bewogen, die Berufsverbote einen „Irrtum“ zu nennen. Sie hätten „mehr Schaden als Nutzen für die Demokratie“ bewirkt. Vergangenheit? Viele junge Menschen befürchten auch heute berufliche Nachteile, wenn sie sich politisch links engagieren. Kein Wunder: In Bayern müssen Bewerber für den öffentlichen Dienst auch nach der bundesweiten Abschaffung der Berufsverbote von 1992 immer noch einen „Fragebogen zur Überprüfung der Verfassungstreue“ ausfüllen. Darauf ist neben der Linksjugend Solid, etlichen Antifa-Bündnissen, Al Quaida und Scientology u.a. auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes als „verfassungsfeindlich“ aufgeführt. Immer wieder werden erneut Berufsverbotsfälle bekannt wie vor zwei Jahren gegen den Münchner Kerem Schamberger. Der junge Medienwissenschaftler konnte nach einer Welle der Proteste allerdings seine Einstellung an der Uni München durchsetzen.

Eigentlich beanspruche ja der Verfassungsschutz, als „Frühwarnsystem“ vor Angriffen auf die Grundrechte zu schützen. In Wahrheit würden sogar von Staats wegen demokratische Rechte abgebaut, zum Beispiel erst kürzlich durch die Polizeiaufgabengesetze (PAG). Wie in Bayern, darunter auch in Hof, habe es dagegen auch in anderen Bundesländern eine Massenmobilisierung, gerade junger Menschen, gegeben. „Gut so“, meint Silvia Gingold, „das einzige wirkliche Frühwarnsystem sind doch wir selbst – die demokratische Öffentlichkeit.“
Dies konnte Stadtrat Thomas Etzel, zweiter Kreisvorsitzender der VVN-BdA, in seinem Schlusswort nur unterstreichen. In seinem früheren Heimatort Gießen habe er die jahrelangen Proteste gegen die Entlassung von zwei Postbeamten, einen Inspektor und einen Fernmeldesekretär, wegen ihrer DKP-Mitgliedschaft aus der Nähe mitverfolgt. „Mit welchem Recht eigentlich maßt sich bei uns ein Geheimdienst an, über die Wahrnehmung von Bürgerrechten zu entscheiden?“