Rede beim Gedenken der DGB-Jugend in der Gedenkstätte des ehem. KZ Dachau

21. November 2023

Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau e.V.

Rede am 12. November 23 beim Gedenken der DGB-Jugend in der Gedenkstätte des ehem. KZ Dachau

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wir sind heute zusammengekommen, um uns mit dem Geschehen vor 85 Jahren zu befassen. Für mich, als Kind einer jüdischen Mutter und eines kommunistisch eingestellten nichtjüdischen Vaters, für meine Geschwister, unsere Familie, war der 7. November 1938 ein sehr tiefer Einschnitt in unser Leben. Zu diesem Zeitpunkt hatte es – auch in meiner kindlichen Wahrnehmung – bereits drastische Veränderungen gegeben. Die angrenzende Hauptsynagoge unmittelbar neben unserem Wohnhaus in der Herzog Max Straße war im Juni 1938 auf Befehl Hitlers und durch Beschluss des Stadtrates zerstört worden. Ich erinnere mich noch an die Abbrucharbeiten an der Synagoge. An Lastwagen, die den Bauschutt aufluden und wegfuhren. Erst später wurde mir bewusst, unter welchem Druck meine Eltern sich befunden haben mussten. Welche Bedrohung sie verspürten als ihr drittes Kind unterwegs war und geboren wurde. Am 8. Juli, als meine Schwester Ruth zur Welt kam, war der Abbruch der Synagoge schon beendet. Die Firma Leonhard Moll hatte 200000 Reichsmark damit verdient. Bei einem erneuten Auftrag der Stadt München nach 1945 hat die Firma Moll den Synagogenschutt zur Befestigung des Isarufers dorthin gekippt.

Die Gebäude der Jüdischen Gemeinde wurden „arisiert“, d.h. geraubt. Wie ich nach der Befreiung erfahren habe, war die IKG von der NS Stadtverwaltung gezwungen worden, diese Häuser zu einem Spottpreis zu verkaufen und allen Mietern zu kündigen. So auch meinen Eltern. Juden hatten zu dieser Zeit kein Rechte mehr. Sie konnten aus gemieteten Wohnungen vertrieben werden, ihre eigenen Wohnungen wurden ihnen geraubt. Unser nichtjüdischer Vater bemühte sich vergeblich um eine Ersatzwohnung. Als Ehemann einer Jüdin, lebte mein Vater im Jargon der Nazis in einer „Mischehe“. Zynisch wurde auch er zurückgewiesen: „Gehen Sie zu den Juden, für Sie sind wir nicht zuständig.“ sagte man ihm z.B. beim Wohnungsamt. Bald lebten nur noch wir in diesen drei ansonsten leeren Gebäuden. Es war kalt und dunkel geworden. Die Stadtverwaltung hatte uns Strom, Gas und Wasser gesperrt. Wo sollten die Eltern hin mit drei Kindern, gekündigt, mit Aussicht auf Zwangsräumung?

Nach vier Monaten fanden unsere Eltern mit Unterstützung der jüdischen Gemeinde eine Notlösung. Sie brachten uns am 7. November 1938 – zwei Tage vor dem Novemberpogrom – in das Kinderheim der Jüdischen Wohlfahrt in der Antonien Straße in Schwabing. Ich war knapp 6 Jahre alt, mein Bruder Werner war fast 9 Jahre und meine Schwester Ruth gerade mal 3 Monate alt, als unsere Familie durch Vertreibung und Entrechtung getrennt wurde.

Nach der ersten großen Deportationen nach Kaunas mit fast 1000 Menschen am 20.November 1941 und dem 2. großen Transport Anfang April 1942 nach Piaski nahe Lublin wurde auch das Jüdische Kinderheim arisiert. Wir noch übrig gebliebenen Kinder mussten in das Deportationslager Milbertshofen u. später nach Berg a. Laim. Anfang 1945 wurden wir Geschwister zusammen mit unserer Mutter in das Ghetto Theresienstadt deportiert.
Während die Behörden des NS Staates Krieg, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden, Sinti und Roma und ganzen Bevölkerungsgruppen planten und durchführten, wurden die Menschen, die dies und andere Verbrechen verhindern oder stoppen wollten und immer noch Widerstand leisteten, in Gefängnissen wie Stadelheim und KZs wie Dachau gefoltert und ermordet.

Um nur einige zu nennen: Georg Elser, Walter Klingenbeck, Mitglieder der Weißen Rose, die denunziert und von skrupellos gehorsamen Richtern zum Tod verurteilt wurden.

Die Warnung „Hitler bedeutet Krieg“ wurde nicht ernst und rechtzeitig aufgenommen, um massenhaften Widerstand zu organisieren.

Mit der Errichtung des Konzentrationslagers in Dachau am 20. März 1933 auf Befehl des Polizeipräsidenten Himmler, begann die umfassende Verfolgung der politischen Gegner°innen des NS-Regimes: Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter, politisch engagierte Juden und kritische Intellektuelle.

Für die Nazis war klar: Der neue Anlauf zu einem Eroberungskrieg kann nur erfolgreich sein, wenn auch im Landesinneren die Kräfte, die gegen Krieg, für demokratische Rechte und die Rechte der arbeitenden Bevölkerung eintreten, ausgelöscht und unwirksam sind. Sie wurden inhaftiert, gequält und ermordet, zur Abschreckung für alle.

Nach der Befreiung durch die Rote Armee aus dem Getto Theresienstadt und nach meiner Rückkehr nach München wusste ich noch wenig von der Funktion und den Schrecken des KZ Dachau.

In dieser Zeit lernte ich jedoch viele ehemalige Dachau Häftlinge kennen.

U.a. Otto Kohlhofer, Eugen Kessler, Hermann Langbein, Adi Maislinger, Anna Pröll. Auch Verfolgte wie Marie Luise Schulze-Jahn, die Verlobte des hingerichteten Hans Leipelt von der Weißen Rose. In den Gesprächen ging es immer um unsere Gegenwart und die Zukunft der Bundesrepublik. Wie groß war unsere Enttäuschung und das Entsetzen, als 1950 bekannt wurde, dass Bundeskanzler Adenauer mit den Verantwortlichen der deutschen Wehrmacht ein neues Militär aufbauen wollte. Diese faschistischen Generäle haben ihre Mitwirkung von einer Ehrenerklärung Adenauers abhängig gemacht, die sie auch bekamen.

Für mich war es unfassbar.

Dieser entsetzliche Vernichtungskrieg, den die Wehrmacht geführt hat, hatte die umfassende Verfolgung und Vernichtung von uns Juden erst möglich gemacht:

  • Die Deportation und Ermordung unserer Tanten und Onkel, meiner Cousins und Cousinen in die Ghettos und Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“, nach Izbica, nach Piaski, wo sie entweder an den Lebensbedingungen dort, in Erschießungsaktionen oder in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor, Belzec ermordet wurden.
  • Die Verschleppung meines Onkels Siegfried Süss-Schülein, der nach seiner Deportation nach Riga drei Jahre lang über die KZs Jungfernhof in Lettland, Kaunas in Litauen, Stutthof, schließlich im Dachauer Außenlager Komplex Landsberg-Kaufering an der Sklavenarbeit für den Krieg zugrunde ging.
  • Unsere Deportation nach Theresienstadt.
  • Die Zerstörungen in den besetzten Ländern, die Ermordung von Millionen Menschen in den eroberten Gebieten, vor allem im Osten und Südosten Europas.

Breite Kreise der Bevölkerung waren kriegsmüde und wollten kein neues Militär. Wir wehrten uns gegen die Remilitarisierung: Mit der VVN, den Gewerkschaften, mit der KPD und FDJ, mit Friedensausschüssen kämpften wir für eine Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und setzten uns damit erneuter brutaler Verfolgung aus. Als aktive Antifaschisten setzten wir uns für eine Gesellschaft ein, in der nicht die Förderer und Profiteure von Faschismus und Krieg weiter bestimmenden Einfluss haben sollten. Als Kriegs- und Atomwaffengegner haben wir uns gegen den Aufbau und Ausbau eines neuen Militärs gewehrt, in dem die ehemaligen Generäle der faschistischen Wehrmacht das Sagen haben.

Doch die Adenauer Regierung setzte sich mit Macht und Gewalt durch.

Heute fordert Verteidigungsminister Pistorius „Kriegstüchtigkeit“! Die Menschen Europas „… müssen sich gewöhnen in Kriegsgefahr zu leben“

Deutschlands besondere Verantwortung aus seiner Geschichte mit zwei begonnenen Weltkriegen und dem Holocaust ist:  Frieden stiften.

Das bedeutet: Deeskalation, keine Befeuerung von Kriegen und Konflikten durch Politik und Waffenlieferungen.

In Europa nimmt der Einfluss der extrem Rechten in und außerhalb von Parlamenten ständig zu. Sie nutzen die soziale Verarmung, die Angst vor Veränderung und Verlusten für ihre nationalistische Politik.

Aus unserer Geschichte wissen wir, dass Kriegsvorbereitungen, Aufrüstung, Abbau demokratischer und sozialer Rechte Hand in Hand gehen.

Wir erleben eine Zunahme faschistischer Gewalt, von Rassismus und Antisemitismus. Wir erleben, wie Unsummen für die Aufrüstung ausgegeben werden und Migrationsprobleme durch eine weitere Verstümmelung von Menschenrechten – auch mit der Einrichtung von Gefängnissen – gelöst werden sollen.

Wir gedenken heute – an diesem Ort – des 9. November 1938.

Mit diesem Pogrom, das den damals noch in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden die noch brutaleren Absichten zeigte, wurde das Tor zum 2. Weltkrieg geöffnet. 

Die Probe des 9. November war erfolgreich! Der Volkszorn eines braunen Mobs ließ sich mobilisieren, die Mehrheit hielt still. Viele stimmten zu.

Wir gedenken heute der Menschen, die ab 1933 in die Hölle des Konzentrationslagers Dachau gebracht wurden.

Zum Gedenken gehört wissen und begreifen wollen, wie diese Verbrechen geschehen konnten, wer Hand angelegt hat, wer beteiligt war, wer Profit und Nutzen daraus zog – über das Kriegsende hinaus.

Gedenken beinhaltet auch erkennen wollen, warum diese Verbrechen nicht rechtzeitig verhindert wurden.

Fotos: Synagoge an der Herzog-Max-Straße (links), Beginn der Abbrucharbeiten (rechts), Juni 1938. Foto Mitte: Deportation Bahnhof-Milbertshofen

Quelle: Buch „Zur Geschichte der Münchner Synagogen“, 1999, Veröffentlichung des Stadtarchivs München.