Zur Causa Hubert Aiwanger

20. September 2023

Es ist uns eine Freude, an dieser Stelle die Überlegungen von Frau Dr. Barbara Distel vom 4. September 2023 veröffentlichen zu dürfen. Frau Dr. Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ Gedenkstätte Dachau.

Zur Causa Hubert Aiwanger

Als am 4. Mai 2023 das fünfzigjährige Bestehen des Projektes „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“ gefeiert wurde, fand es in der deutschen Öffentlichkeit so gut wie kein Echo. Im Jahr 1973 hatten der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann und der Hamburger Stifter Kurt A. Körber diesen Wettbewerb ausgelobt. Schüler aller Schularten sollten sich im Rahmen des Geschichtsunterrichts auf historische Spurensuche in ihrem Umfeld begeben. Alle Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland übernahmen in den darauffolgenden Jahrzehnten die Schirmherrschaft für diesen Wettbewerb, zu dem bis heute 156 000 Arbeiten eingereicht wurden.

Nur wenige Monate später, am 25. August 2023, geriet dieser Schülerwettbewerb – wenn auch nur am Rande – im Zusammenhang mit den Berichten der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG über ein rechtsradikales Flugblatt aus den 1980er Jahren im Besitz von Hubert Aiwanger, dem Vorsitzenden der FREIEN WÄHLER in Bayern und Stellvertretenden Ministerpräsidenten Bayerns in eine hitzige öffentliche Diskussion. In der Woche bis zum 3. September 2023 begann eine intensive Berichterstattung in allen Medien über die Reaktionen auf das Bekanntwerdendes Flugblattes. Einerseits wurde Hubert Aiwanger als Opfer einer, wie er es selbst bezeichnet, „Schmutzkampagne“, die seine Chancen in der bevorstehenden Landtagswahl mindern sollen, verteidigt. Andererseits wurde sein Rücktritt, bzw. die Entlassung aus seinem Amt durch den Bayerischen Ministerpräsident gefordert. Am Sonntag, dem 3. September erklärte Markus Söder auf einer Pressekonferenz, dass er vorerst von personellen Konsequenzen für Hubert Aiwanger absieht, betonte, dass es wichtig sei, „Reue und Demut zu zeigen“. Zum gleichen Zeitpunkt erklärte Hubert Aiwanger auf einer Wahlveranstaltung im Bierzelt, dass die „Schmutzkampagne“ gescheitert sei, der MÜNCHNER MERKUR zitiert ihn mit den Sätzen, „Für so einen Käse habe ich keine Zeit. Wir haben ein sauberes Gewissen.“ Kann man es dabei belassen?

Hier soll aus Sicht jahrzehntelanger Arbeit an der KZ-Gedenkstätte Dachau noch einmal auf den historischen Forschungswettbewerb des Bundespräsidenten eingegangen werden, in dessen Kontext das Flugblatt das Hubert Aiwanger zur Last gelegt wird, gesehen werden muss. Als sich im Laufe der 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland ein grundlegender Wandel im Umgang mit den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur vollzog, spielte der Forschungswettbewerb des Bundespräsidenten eine nicht unerhebliche Rolle. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte mit seiner Rede zum 8. Mai 1985, die zum ersten Mal dieses Datum zum Tag der Befreiung erklärte und die zu einem Meilenstein in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde, das Thema in konservative Kreise getragen, die sich zuvor der Debatte vier Jahrzehnte verweigert hatten. Die Schüler, die sich aufmachten in diesem Jahrzehnt den „Alltag im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit“ in ihrem Umfeld zu erforschen, erlebten zunächst viel Zurückweisung vor allem bei einschlägigen Behörden und Institutionen, aber sie konnten auch erstaunliche bislang unbekannte Fakten zu Tage bringen, die einige der eingereichten und preisgekrönten Arbeiten zu Grundlagen weitergehender Forschungen und zu bedeutsamen kulturgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Projekten machten. Für die Geschichte des Konzentrationslagers Dachau und die Arbeit an der 1965 eröffneten Gedenkstätte waren es vor allem zwei Themenbereiche deren Aufarbeitung in den 1980er Jahre durch den Geschichtswettbewerb ihren Anfang nahmen:

  • Im Zeitraum 1982/1983 begann Edith Raim, Schülerin eines Landsberger Gymnasiums, zusammen mit anderen im Rahmen des Wettbewerbs mit der Erforschung der Geschichte der Dachauer Aussenlager im Bereich Landsberg Kaufering, in denen im letzten Kriegsjahr von 30 OOO zum überwiegenden Teil jüdischen Häftlingen schätzungsweise 45% zu Tode gekommen waren. Die spätere Historikerin Edith Raim verfasste ihre Dissertation zur Geschichte dieses Lagerkomplexes und blieb der Erforschung des lokalen Umfeldes verbunden. Die Auseinandersetzungen um den Erhalt und die Nutzung baulicher Überreste dieser Lager haben sich über die letzten Jahrzehnte zwischen Verantwortlichen im lokalen, staatlichen und gesamtstaatlichen Bereich hingezogen ohne dass es zu zufriedenstellenden Lösungen gekommen wäre. Doch die für die Geschichte des Konzentrationslagers Dachau so bedeutsame Schlussphase kann als aufgearbeitet gelten, sie ist Teil des Geschichtskanons der Region geworden und dies nicht zuletzt dank der Unterstützung der überlebenden Zeugen, die inzwischen fast alle verstorben sind.
  • Im Jahr 1985 brachte Ekkehard Knobloch, damals Oberbürgermeister der, im Süden Münchens gelegenen Ortschaft Gauting einen Antrag im Gemeinderat ein, ein Mahnmal für die Opfer des Todesmarsches der Dachauer Häftlinge zu errichten, der in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 auch durch Gauting geführt hatte. Er lud alle Gemeinden im Süden Münchens, durch die der Todesmarsch geführt hatte, zu einem gemeinsamen Wettbewerb ein, an dem sich Künstler, die im Bereich der Wegstrecke wohnten, beteiligen konnten. Auch Ekkehard Knobloch hatte die Anregung für ein Mahnmal durch eine Schülerarbeit über die auf dem Gautinger Friedhof bestatteten jüdischen Opfer bekommen. Zunächst gab es Absagen und Ablehnung aber nachdem im Jahr 1989 die ersten identischen Mahnmale eingeweiht werden konnten, entwickelte sich das Projekt zu einem Katalysator für den Prozess derAuseinandersetzung mit der Geschichte des Verbrechens in dieser Region. 60 Künstler beteiligten sich an dem Wettbewerb, den der Bildhauer Hubertus von Pilgrim gewann, und dessen Denkmal schließlich an 22 Orten realisiert werden konnte. Auch hier spielten Überlebende des Marsches, die über zwei Jahrzehnte als Zeugen nach Bayern zurückkehrten um über ihre Erfahrungen zu berichteten eine bedeutsame Rolle. Als im Jahr 1992 eine Kopie des Denkmals in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem aufgestellt wurde, gründete sich eine Vereinigung von Überlebenden der Dachauer Aussenlager um Landsberg Kaufering, von denen viele Teilnehmer des Todesmarsches gewesen waren.

Am Ende des Zeitraumes 1980 bis 1995, in dem der Geschichtswettbewerb seine größte Resonanz gefunden hatte, standen auch Erfahrungen mit Ablehnung, Leugnung und rechtsextremen Diffamierungen, wie das Aiwanger Flugblatt, das im Archiv der Gedenkstätte Dachau als Anlage einer Schülerarbeit aus dem Jahr 1988/89 zu finden ist. Trotzdem waren diese Jahre Ausgangspunkt für Jahrzehnte, in denen Wissen gesammelt wurde und in denen sich die Hoffnung entwickelte, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik und ihre Institutionen die gesellschaftspolitische Aufgabe der Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen und das Schicksal der Opfer auf Dauer unterstützen und befürworten werde.

Vergleicht man heute die Auseinandersetzung um das Flugblatt aus der Schultasche des Hubert Aiwanger und seine Einlassungen seit dem 25. August 2023 dazu mit den Auseinandersetzungen um den Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen in den 1980er Jahren, so scheint diese Hoffnung ihre Grundlage zu verlieren. Die rechtsextreme Partei „Alternative für Deutschland“ droht in Umfragen zur Partei mit den meisten Wählerstimmen zu werden. Sie leugnet die NS Verbrechen generell und verhöhnt die Opfer. Und seit gestern erklärt die Bayerische Regierung die Causa Aiwanger als „vorläufig erledigt“ und hofft damit, ihre Wählerschaft am rechten Rand des politischen Spektrums bei den bevorstehenden Wahlen von der AfD fern zu halten. Die Beschädigung der politischen Glaubwürdigkeit beschränkt sich allerdings nicht auf Bayern, denn auch aus der Schwesterpartei CDU kam kein Aufschrei der Empörung.

Dr. Barbara Distel

Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau von 1975 bis 2008