Vor 87 Jahren, am 9./10. November 1938, fanden die faschistischen Novemberpogrome in Deutschland statt. Im ganzen Land – koordiniert und inszeniert vom Nazi-Regime – wurden jüdische Bürger*inne und ihre Unterstützer*innen überfallen, gedemütigt, schwer verletzt, ausgeraubt und ermordet. Nachbar*innen stahlen die Habseligkeiten von Verfolgten, Anwohner*innen plünderten und verbrannten Synagogen, schikanierten, bedrohten und töteten Menschen. Die faschistischen Behörden unterstützten das Treiben, der Staat wollte das antisemitische Fanal, die Kirchen deckten den Terror aus religiös-fanatischer Überzeugung, die Medien lieferten die ideologische Munition.
Mehrere hundert Jüdinnen und Juden wurden ermordet, etliche Synagogen, Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen zerstört. Zehntausende jüdische Menschen wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort gefoltert oder getötet.
Die Novemberpogrome gelten als wichtiger Übergang und Vorbereitung zur Shoah, dem planmäßigen antisemitischen Massenmord. Das Regime wollte im November 1938 testen, ob solche Verbrechen möglich waren – und sie waren es, weil es nur wenige Widerstandsbewegungen gab und die Mehrheit auf der Linie des faschistischen Terrors war.
Gestern erinnerten wir an vielen Orten an die Opfer dieses Terrors.
Antisemitismus muss entschlossen bekämpft werden!






Im Folgenden die Rede von Luise Gutmann in Freising:
Gedenken der VVN-BdA Freising-Moosburg an die Opfer der Reichspogromnacht am 10. November 2025 in Freising
Rede Luise Gutmann
Wir stehen hier auf dem Marienplatz mitten in der Stadt, um der Opfer der Pogromnacht zu gedenken. Mitten in der Stadt lebten und arbeiteten auch die wenigen jüdischen Familien, die es hier gab. Ignatz und Lina Neuburger schufen sich mit einem Textil- und Modewarengeschäft eine Existenz in der Bahnhofstraße und gründeten eine Familie. Das war 1881 als sie in Freising anfingen. Ihre Kinder Alfred, Siegfried und Emma waren bereits gebürtige Freisinger.
Bernhard Holzer und sein Bruder Oskar gründeten das „Warenhaus Gebr. Holzer“ in der Oberen Hauptstraße. Bernhard Holzer heiratete 1894 Jette Neumeier. Ihre beiden Kinder Irma und Siegfried wuchsen hier auf.
Ein paar Jahre später gab es das Kaufhaus am Marienplatz von Johanna Krell und ihrem Mann Marcus Lewin. Es lebten nicht viele Juden in Freising, aber doch noch einige Menschen mehr, als die Familien, die ich hier erwähnt habe. An sie alle sei hier und heute mitten in Freising gedacht.
Sie alle wurden zunehmender antisemitischer Hetze ausgesetzt und eine Generation später staatlichem Terror, behördlich organisiertem Raub, Vertreibung, tödlicher Verfolgung bis in die Vernichtungslager.
Ab 1933 gab es keine Bürgerinnen und Bürger mehr es gab nur noch Volksgenossen und Parteigenossen und solche die aus der Volksgemeinschaft ausgemerzt, ausgeschlossen wurden.
„Zum Anschauen“ zerrten sie Irma Holzer aus dem Haus und misshandelten sie schwer. Eine gesteigerte Hetzte ist bereits Monate vor der Novembernacht nachweisbar. Das Pogrom war organisiert und der Volksgemeinschaftsmob hetzte sich selber auf, im Stieglbräu, im Colosseum und in anderen Wirtshaussälen sprachen die örtlichen Nazifunktionäre. Die jüdischen Familienväter waren bereits im KZ Dachau. Und so holten sie Irma Holzer. Dann zog der dreitausendköpfige Mob vor das Haus meines Großvaters Jakob Lehner. Dank der historischen Forschung von Guido Hoyer ist inzwischen allgemein bekannt, was dann passierte. Sie zogen Max Lehner in einem Schandmarsch durch die Stadt. Um seinen Hals hing ein Schild „ich bin ein Judenknecht“.
Verehrte Anwesende ich wurde für diese Gedenkkundgebung als Tochter von Max Lehner angekündigt. Deshalb das Folgende.
Was oder wie habe ich über die Verbrechen des Naziregimes erfahren.
Meine Familie war nicht redseliger als andere. Aber Kinder lernen nicht nur aus expliziten Erzählungen. Kinder machen sich sehr bald eine Vorstellung davon, was erlaubt ist, und was sie bei ihren Eltern in Schwierigkeiten bringen könnte. Sie wissen auch was gleiche und was ungleiche Behandlung bedeutet. Und man trifft auch schon im zarten Vor- und Grundschulalter Entscheidungen, ob man sich jetzt mal entsprechend den vermuteten elterlichen Maßstäben verhält, also den geraden Weg zum Kindergarten geht, oder mal eine Schleife über die Hauptstraße wählt.
Was ich sagen will, schon sehr früh bekommen wir Dinge mit und treffen auch Entscheidungen.
Es waren zwei Freisinger, die mich viel später auf die Ereignisse der Pogromnacht angesprochen haben. Beide kannte ich persönlich kaum. Sie fragten, ob ich wüsste, was meinem Vater von den Nazis geschehen sei. Beide Male sagte ich ja, ich weiß Bescheid.
Ich habe und hatte aber keine Erinnerung an ein Gespräch, indem mir explizit Mitteilung gemacht worden wäre. Ich hatte den Eindruck, ich wüsste es immer schon. Was die Freisinger jüdischen Familien betrifft, erinnere ich einen Satz meines Vaters, er sagte bedrückt „es ist ja keiner zurückgekommen.“
Ich weiß, dass mein Großvater sich mit meinem Vater oft unterhielt und meine Mutter die schmachvolle traumatisierende Geschichte des Schandmarsches von ihrem Schwiegervater erfahren hat.
Mein Gedächtnis oder mein Bewusstsein über die Geschichte des Naziterrors ist über die Zeit hinweg wie ein Mosaik entstanden, das sich aus vielen einzelnen Steinen zusammensetzt, ein Mosaik das nie vollständig sein wird. So in Puzzleteilchen ist ein einzelnes Wort aus dem Mund meines Großvaters, das mit inbrünstigem Hass ausgesprochen wurde und sich auf die Nazis bezog.
Das Wort heißt „Staatsverbrecher“.
Als später das große Schweigen in den Familien thematisiert wurde, dass man als Kind von den Eltern keine Antwort bekam, dachte ich, ich fragte ja auch, „wie konnte das geschehen?“ Mein Vater dachte mit mir gemeinsam über diese Frage nach.
Als ich zu Beginn meines Studiums auf Vermieter traf, die mir von der Hitlerjugend vorschwärmten, konnte ich es nicht fassen. Ich war der irrigen Auffassung, dass alle die Nazis hassten und diese Verhältnisse nie wieder haben wollten. Ich sollte mich noch oft wundern.
Ich stehe aber auch hier vor Ihnen als Landessprecherin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Nach der Shoa – wahr aber nicht tröstlich – war nichts mehr wie vorher. Das Freising, in dem sich die jüdischen Familien eine Existenz und eine Zukunft für ihre Kinder aufgebaut hatten, gab es nicht mehr. Die Volksgemeinschaft hat dieses Freising für immer zerstört.
Über die Wiedergutmachung danach will ich gar nicht reden. Der erste Beauftragte für Wiedergutmachung in Bayern, Dr. Philipp Auerbach, selbst Auschwitzüberlebender, der tausenden von DPs zu ihren Ansprüchen verholfen hat, bei dem sich auch zwei rassisch verfolgte Frauen, Mutter Bertha und Tochter Margit Ujhely, die alt, krank und verarmt im Heiliggeistspital hier in Freising lebten, in rührender Weise für die Brennholz- und andere Hilfen bedankten. Diese beiden mussten schließlich noch erleben, dass das Leben der Ruf, die Existenz und die Gesundheit von Dr. Philipp Auerbach durch den bei uns allen fortwirkenden Antisemitismus der vollständig zerstört wurde.
Wenn Erinnerung an deutsche Verbrechen in den Dienst einer deutschen Selbstbestätigung gestellt wird (Weltmeister der Erinnerungskultur!), wenn Gedenken als Grundlage einer nationalen Identität dienen soll, wenn Erinnern prinzipiell auf nationale Harmonisierung und Vergemeinschaftung ausgerichtet ist, dann besteht die Gefahr, dass alles, was nicht ins Bild des erfolgreichen historischen Lernprozesses passt, nicht wahrgenommen wird, nicht von der Öffentlichkeit, nicht von politisch Verantwortlichen, nicht von Ermittlungsbehörden, nicht von der Justiz. Dann wird ausgeblendet oder zur Ausnahme erklärt. Dann mordet ein NSU über viele Jahre unerkannt.
Die massiven Angriffe der AfD auf die Erinnerungskultur zeigen, dass sich der vermeintliche Konsens nach der Weizäcker-Rede vor 40 Jahre ebenso wenig eingestellt hat, wie die demokratische Läuterung. Die AfD ist keine normale Partei. Wir fordern ihr Verbot.























